In der Artikelreihe zu Agile Leadership haben wir uns in Teil 1 mit den Grundlagen und in Teil 2 mit psychologischen Aspekten befasst. Der nächste Entwicklungsschritt zur agilen Führungskraft ist die intensive Auseinandersetzung mit sich selbst. Nur wer sich selbst gut kennt und sich beobachtet, kann erkennen, welche Auswirkungen das eigene Kommunikationsverhalten auf das Teamverhalten hat - ganz wesentlich, wenn man bedenkt, dass Führung in erster Linie über Kommunikation erfolgt.
Agile Führungskräfte sind aktive Teile ihrer Teams. Idealerweise sind sie sehr nah an ihren Teams und kommunizieren und interagieren täglich mit den Mitarbeitenden. Ihr Verhalten spielt dabei eine wesentliche Rolle. Es beeinflusst entscheidend das Teamverhalten. Damit sie nicht im Blindflug agieren, ist es wichtig, dass sie sich mit sich selbst auseinandersetzen und bewusst das eigene Verhalten und die eigene Arbeit gestalten. Tun sie das nicht, setzen sie unbedachte Handlungen. Das kann gut ausgehen, oder auch nicht, z.B. könnte die psychologische Sicherheit darunter leiden. Auch der Umgang mit komplexen Herausforderungen wird schwierig, wenn sich Führungskräfte ihres eigenen Einflusses auf das System nicht bewusst sind.
Kenne dich selbst
Um andere zu führen, muss man zuerst sich selbst führen. Dazu muss man sich gut kennen. Das bedeutet vor allem, dass man sich der eigenen Werte und wichtiger Glaubenssätze bewusst ist. Werte bestimmen unsere Entscheidungen und unsere Einstellungen zu anderen Menschen und uns selbst. Wenn z.B. ein wichtiger Grundwert Loyalität ist, werden Sie in Bezug auf eine neu zu besetzende Stelle eine andere Entscheidung treffen, als wenn ein wesentlicher Wert für Sie Innovation ist. Ein einhergehender Glaubenssatz zum Wert Loyalität könnte dann lauten: “Nur wer loyal zu seinem Unternehmen steht, hat auch Belohnung verdient.” So wird sich die Einstellung gegenüber Mitarbeitenden zeigen, und Sie würden vielleicht bei Beförderungen Team-Mitglieder bevorzugen, die schon länger im Unternehmen sind gegenüber denen, die öfter den Job gewechselt haben.
Für eine Selbsteinschätzung ist es auch wichtig, die eigenen Stressauslöser zu kennen, um sich auf unangenehme Situationen besser vorbereiten oder einstellen zu können. Wenn ein Konflikt mit einem Team-Mitglied für Sie besonders schwierig ist, brauchen Sie dafür eine andere Umgangsstrategie, als wenn Sie gelassen zu dieser Person eingestellt sind. Sie müssen auch hinterfragen, wie es um Ihre Emotionskontrolle bestellt ist (verlieren Sie in bestimmten Situationen leichter die Fassung?), wie Sie reagieren und welchen Effekt Sie auslösen wollen. Wenn Sie öfter von Ihren Emotionen überrascht werden, dann hat das auch Auswirkungen auf das Team. Wenn Sie sich dagegen gut einschätzen können, und wissen, dass Sie sehr emotional reagieren könnten, wählen Sie vielleicht ein anderes Setting, eine andere Besetzung oder stimmen sich anders ein.
Zur Selbstkenntnis zählen auch das eigene Menschen- und Weltbild, sprich: Was halte ich grundsätzlich von anderen Menschen oder “der Gesellschaft” (als Extrembeispiele: “Menschen sind hilfsbereit und unterstützen einander im Notfall.” vs. “Menschen handeln immer egoistisch, ich kann nur auf mich selbst zählen.”). Aber auch die eigenen Lebensvisionen und -ziele zählen dazu. Wohin will ich im Leben, was will ich erreichen? Und schließlich ist es wichtig, das eigene Selbstbild zu kennen. Was halte ich von mir? Wie will ich sein und gesehen werden?
Leider kommen all diese Aspekte in unseren Ausbildungssystemen viel zu kurz. Kaum jemand hat sich bereits früh mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Doch sich selbst zu kennen, bringt gewaltige Vorteile, nicht nur in der Führungsarbeit, sondern bei jeder Entscheidung, die man treffen muss.
Nimm dich selbst wahr
Wenn man sich nun besser kennenlernen möchte, ist es notwendig, Selbstreflexion zu betreiben. Dafür braucht man Zeit, Ruhe und Achtsamkeit. Alles Dinge, die im stressigen Arbeitsalltag viel zu kurz kommen. Hier ein paar Beispiele, wie Sie trotz vollen Terminkalenders Selbstwahrnehmung üben können.
Beobachten Sie sich selbst. Selbstwahrnehmung beginnt immer mit Beobachtung. Versuchen Sie, zuerst in alltäglichen Situationen, eine übergeordnete Perspektive einzunehmen, und die Situation “von außen” oder “von oben” zu betrachten. Hilfreiche Fragen dazu sind: Was würde eine Fliege an der Wand beobachten? Wenn ich mich aus der Situation “hinauszoome” oder wie ein Vogel darüber fliege, was würde ich sehen? Wie könnte mein Gegenüber die Situation gerade sehen? Oder auch spezifischer, wenn es um konkrete Verhaltensweisen geht: Welche Emotion fühle ich gerade? Bin ich gestresst oder angespannt (schwitzige Handflächen, Kiefer zusammengebissen, Stirn gerunzelt, etc.)? Was denke ich gerade? Was befürchte ich gerade?
Selbstbeobachtung gelingt natürlich nicht perfekt von heute auf morgen. Nehmen Sie sich dafür zuerst einfache Situationen vor, und beobachten Sie einfach nur, ohne Ihre Beobachtung zu bewerten oder weitere Schritte zu planen. Sie werden sehen, mit der Zeit gelingt es Ihnen besser und besser, und Sie können den Schwierigkeitsgrad steigern.
Der nächste Schritt ist Selbstreflexion. Nehmen Sie sich dafür bewusst Zeit. Auch hier empfehle ich am Anfang ganz kleine Schritte, z.B. könnten Sie sich jeden Abend 5 Minuten mit der Frage beschäftigen: “Was ist mir heute gut gelungen?” Leider verstehen einige Menschen unter Selbstreflexion “Selbstherabsetzung”, also die gnadenlose Offenlegung und Verurteilung von allem, was man scheinbar falsch gemacht hat. Legen Sie deshalb hier bewusst den Fokus auf positive Aspekte. Die Gefahr ist groß, dass man schnell wieder die Lust an der Selbstreflexion verliert, wenn man sich zu sehr auf das Negative konzentriert. Für geübtere Personen empfehle ich, unterschiedliche Reflexionsfragen zu sammeln und sich immer wieder andere Aspekte anzusehen.
Leider tendieren Menschen dazu, sich unangenehmen Beobachtungen zu entziehen. Wenn es schmerzhaft für den Selbstwert werden könnte, neigen wir dazu zu ignorieren, auszublenden oder zu leugnen. Unsere blinden Flecken sind aber wertvolle Hinweise auf Entwicklungspotenzial. Hier hilft es, sich regelmäßig Feedback von anderen einzuholen. Aber achten Sie darauf, dass Sie Feedback bewusst erfragen und Überbringer von negativem Feedback nicht abwerten oder bestrafen, sondern danken. Denken Sie daran, dass Feedback geben nicht einfach ist (besonders nicht der eigenen Führungskraft), Mut erfordert und schnell wieder eingestellt wird, wenn man sich nicht gehört fühlt.
Auch die Arbeit mit Coaches hilft, sich selbst besser wahrzunehmen. Ein Coach wird Ihnen Fragen stellen, die Sie sich selbst nicht stellen würden, und kann Ihnen neue Perspektiven aufzeigen, die Sie bisher nicht sehen konnten. Vor allem aber zwingt allein die Tatsache, einen Coach zu haben, sich Zeit für sich selbst zu nehmen.
Führe dich selbst
Je besser Sie sich selbst kennen und je bewusster Sie sich verhalten, desto besser werden Sie sich selbst führen können. Wer im Blindflug unterwegs ist, wird sich schon mit einfacheren Führungssituationen schwertun. Es geht nicht nur darum, die eigene Arbeit zu gestalten, sondern auch die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und schließlich um eine bessere Navigation durch komplexe Gegebenheiten. Dazu sind folgende Verhaltensweisen notwendig:
Übernehmen von Verantwortung. Wer Ver-Antwort-en verweigert, stellt sich als passives Opfer dar und hat auch keine Antworten auf Herausforderungen. Verantwortung können Sie auf jeden Fall für Ihr eigenes Denken, Handeln und Fühlen übernehmen. Hier Beispiele dazu: Wenn Sie ungeprüft Interpretationen oder Hören-Sagen als Tatsachen hinnehmen, sind Sie passiv und nicht aktiv im Denkprozess. Übernehmen Sie Verantwortung, dann trennen Sie Fakten von Fantasie und hinterfragen Ihre Quellen. Oder: Wenn etwas schiefgeht, können Sie anderen Schuld zuweisen (passive Opferhaltung) oder Sie hinterfragen auch Ihre Beteiligung und die Auswirkungen Ihres Handelns auf die Situation. Oder: Wenn Sie sich von Aussagen persönlich angegriffen fühlen, können Sie beleidigt sein (passives Opfer) oder Sie hinterfragen aktiv, was genau Ihr Gegenüber meint und Sie überlegen, was genau das Gefühl der Beleidigung auslöst (welches Ihrer Bedürfnisse dadurch gestört wird). So übernehmen Sie, als selbstverantwortlicher Mensch die Gestaltungsrolle und bestimmen aktiv, wie Sie mit der Situation umgehen wollen.
Geben von Fokus und Klarheit. Und zwar zuerst bei sich selbst (wie will ich arbeiten, worauf will ich mich konzentrieren), um dann auch konzentriert an den Organisationszielen arbeiten zu können. Haben Sie die Klarheit nicht für sich selbst durch die Formulierung von eigenen Zielen, werden Sie viele Umwege gehen müssen und Organisationsziele kommen zu kurz. Ein Beispiel: Wenn Sie nicht klar wissen, welche Strategie Sie verfolgen wollen, können Sie diese auch nicht klar kommunizieren. So entstehen durch fehlenden Fokus oder ständige Umpriorisierung Verwirrung, Mehraufwand, Fingerpointing und Frustration - nicht nur bei Ihnen, sondern auch bei den Mitarbeitenden. Wenn Sie oft das Gefühl haben, dass Sie und Ihr Team aneinander vorbei reden, liegt es vielleicht an fehlender Klarheit.
Nutzen von Spielräumen. Das geht Hand in Hand mit Fokus und Klarheit. Konzentrieren Sie sich auf die Dinge, die Sie betreffen und auf die Sie Einfluss haben, und lassen Sie sich von den Dingen, die Sie nicht betreffen oder auf die Sie keinen Einfluss haben, ablenken oder blockieren. Ein Beispiel: Die Unternehmensstrategie ist in Ihren Augen zum Teil nicht sinnvoll. Wenn Sie aber nicht in der Position oder im Einflussbereich für eine Veränderung sind, können Sie überlegen, was Sie trotzdem tun können, um die Lage zu verbessern. Sicher nicht weiterhelfen wird Ihnen, sich laufend darüber zu beschweren (ist natürlich auch eine gute Taktik, um die Komfortzone nicht verlassen zu müssen). Aber vielleicht können Sie sich in Ihrem Bereich auf andere Teile der Strategie konzentrieren, die Strategie so herunterbrechen, dass es für Ihren Bereich sinnvoll wird, oder mehr Informationen zum Hintergrund der Strategie einholen, um sie besser verständlich zu machen. Seien Sie kreativ auch in der Ausweitung Ihrer Spielräume: Vielleicht können Sie auch jemanden beeinflussen, der die Strategie beeinflussen kann.
Agile Führungskräfte, die diese drei Faktoren umsetzen, erleben sich selbst wirksamer. Dadurch steigt die Überzeugung, dass eigene Handlungen die gewünschten Auswirkungen zeigen, was wiederum positive Auswirkungen auf Motivation, Entscheidungsfreudigkeit und Optimismus hat.
Sei nett zu dir selbst
Zur Selbstführung gehört auch der wertschätzende Umgang mit sich selbst. Viele Führungskräfte betreiben regelrecht Raubbau an ihren eigenen Ressourcen und achten zu wenig auf ihr eigenes Wohlergehen. Um aber wirklich positiven Einfluss auf das System nehmen zu können, braucht man Kraft und Energie. Ausgelaugte und erschöpfte Führungskräfte können nicht viel ausrichten. Daher achten Sie gut auf sich selbst, gehen Sie nett mit sich um und tanken Sie regelmäßig Energie auf. Im ersten Schritt überlegen Sie, was Ihnen Kraft und Energie spendet - das können die unterschiedlichsten Dinge sein, von Sport bis zu ausgedehnten Ruhezeiten, gute Gespräche, eine Umarmung, ein guter Film, etc. Wichtig ist, dass Sie Ihre “Batterien” regelmäßig überprüfen und auch regelmäßig aufladen.
Kurz zusammengefasst: Um wirksam und motiviert zu führen, braucht es zuerst Selbstführung. Agile Führungskräfte sollten sich daher intensiv mit sich selbst auseinandersetzen, um ihr Kommunikationsverhalten und dessen Auswirkungen auf das Team zu verstehen. Verantwortungsübernahme, Fokus, Klarheit und die Nutzung von Spielräumen sind Verhaltensweisen, die zur effektiven Selbstführung beitragen. Zentraler Entwicklungsschritt dorthin sind Selbstwahrnehmung durch Beobachtung und Selbstreflexion. Erst dadurch wird es Führungskräften gelingen, echte Veränderungen (zu mehr Agilität) zu bewirken. Ganz nach dem Motto: Wer verändern will, fängt bei sich selbst an.
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